"Mehr Selbstbestimmung"
Das Bundessozialgericht hat mit einem richtungsweisenden Urteil am 10. September 2020 so genannte Pflege-WGs gestärkt. Der Caritasverband für die Diözese Mainz (DiCV), der selbst mehrere solcher Wohnpflegegemeinschaften anbietet, hatte die Klägerin beraten. Fünf Fragen an den DiCV-Justiziar Heinrich Griep:
Herr Griep, was genau zeichnet eigentlich eine Pflege-WG aus?
In Wohnpflegegemeinschaften leben in der Regel bis zu acht Bewohnerinnen oder Bewohner. Sie unterscheiden sich von Pflegeheimen unter anderem dadurch, dass die dort lebenden älteren Menschen und ihre Angehörigen selbst darüber entscheiden, wer die ambulante Versorgung leistet, also pflegt und betreut. Angehörige oder Ehrenamtliche tragen - sofern möglich - zu einem gelingenden Gemeinschaftsleben bei.
Worum ging es in dem Verfahren?
In der Pflegeversicherung ist für die Finanzierung der "Wohnpflegegemeinschaft" ein monatlich zu zahlender Wohngruppenzuschlag in Höhe von 214 Euro pro pflegebedürftiger Person vorgesehen. Damit wird unter anderem eine Präsenzkraft finanziert, die die ambulante Versorgung koordiniert und die Gestaltung des Gemeinschaftslebens unterstützt. Sie wird gemeinsam von den WG-Mitgliedern beauftragt. Mit Rückendeckung mehrerer Sozialgerichte hatten einige Krankenkassen diese Leistung in der Vergangenheit immer wieder verweigert. Dagegen hatte unter anderem die Bewohnerin einer Wohnpflegegemeinschaft des Caritasverbandes Westeifel geklagt. Als Diözesancaritasverband Mainz haben wir die Klägerin - gemeinsam mit dem Diözesancaritasverband Trier - beraten.
Wie argumentierte das Gericht?
Das Bundessozialgericht verwies in seinem Urteil auf das gesetzlich festgeschriebene Ziel, ambulante Wohnformen und damit das Selbstbestimmungsrecht pflegebedürftiger Menschen zu fördern. Vor diesem Hintergrund hält es die bislang von einigen Krankenkassen aufgestellten hohen Hürden zur Zahlung des Wohngruppenzuschlags für nicht gerechtfertigt. So müsse eine gemeinschaftliche Beauftragung der Präsenzkraft durch die WG-Mitglieder keinen strengen Formvorgaben genügen und könne auch nachträglich von den WG-Mitglieder genehmigt werden. Beauftragt werden können sowohl eine als auch mehrere Personen - oder eben eine die Präsenzkraft beschäftigende juristische Person wie etwa ein Caritasverband.
Was bedeutet das Urteil für die Caritas?
Wir begrüßen das Urteil, schließlich bieten wir im Bistum Mainz mehrere solcher Pflege-WGs an. Das Urteil gibt uns eine weitgehende Rechtssicherheit. Es ermutigt uns, unser Angebot selbstbestimmter Wohnformen weiter auszubauen. Viele Menschen wünschen sich für ihren Lebensabend solche individuellen Wohnformen. Leider befürchten wir, dass den Pflege-WGs weiterhin Steine in den Weg gelegt werden.
Inwiefern bleibt es schwierig, eine Pflege-WG anzubieten?
Die Erfahrung zeigt, dass die Heimaufsichtsbehörden und sonstige Behörden mitunter Anforderungen stellen, die das Angebot selbstbestimmter Wohnformen erschweren und in letzter Konsequenz auch verhindern. Wir haben den Eindruck, dass vermeintlich fürsorglich handelnde Behörden das Selbstbestimmungsrecht der Bewohner nicht ausreichend berücksichtigen. Insofern freuen wir uns darüber, dass das Bundessozialgericht den Selbstbestimmungsgrundsatz in den Mittelpunkt gerückt hat.
Danke für das Gespräch!
Urteil: Aktenzeichen B 3 P 2/19 R, B 3 P 3/19 R, B 3 P 1/20 R