Älter - Bunter - Weniger
Statement des Gießener Caritasdirektors Joachim Tschakert
bei der Sozialpolitischen Fachveranstaltung "Älter - bunter - weniger - aktiv für das WIR" am 22. August 2017
Wie wird der gesellschaftliche Wandel in Gießen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aussehen? Dieser Frage ging die Fachveranstaltung "Älter - bunter - weniger - aktiv für das WIR" in Gießen nach. Anlass der Veranstaltung am 22. August war das 70-jährige Bestehen des Caritasverbandes Gießen. Der Text dokumentiert das politische Statement des Gießener Caritasdirektors Joachim Tschakert.
"Älter - bunter - weniger": - was das für den Caritasverband Gießen heißt, lässt sich sehr gut am Beispiel der Allgemeinen Lebensberatung ablesen, die unser Verband seit Beginn seiner Arbeit im Jahr 1946 anbietet. Diese Arbeit wird ausschließlich über Kirchensteuerzuschüsse und Eigenmittel des Verbandes finanziert.
Stichwort "Wir werden weniger": Bereits jetzt ist sicher, dass die Kirchensteuermittel für die Allgemeine Lebensberatung im Jahr 2018 vom Bistum Mainz eingefroren werden. Grund sind die zurückgehenden Mitgliederzahlen der katholischen Kirche und die sinkenden Kirchensteuereinnahmen.
Stichwort: "Wir werden älter - bunter" - Auch das gilt bei der Allgemeinen Lebensberatung. Durch den Zuzug der Flüchtlinge in den vergangenen Jahren ist der Bedarf an Allgemeiner Lebensberatung eher gestiegen als gesunken. In Gießen, der Wetterau und dem Vogelsberg gibt es viele Menschen, die Beratung brauchen, nicht nur, weil sie die deutsche Sprache noch nicht ausreichend beherrschen, sondern auch, weil sie sich bei den deutschen Behörden nicht auskennen. Auch die Zahl alter Menschen, die Beratung brauchen, steigt in den nächsten Jahren an. Wie der Verband angesichts dieses wachsenden Bedarfs das Angebot der Allgemeinen Lebensberatung aufrechterhalten kann, wenn gleichzeitig die Kirche in den nächsten Jahren ihre Zuschüsse hier möglicherweise noch weiter zurückfährt, ist eine offene Frage. Dabei wird die Allgemeine Lebensberatung nur von Caritas und Diakonie angeboten. Hier gibt es keine privaten Anbieter, die die Lücke füllen könnten!
"Älter - bunter - weniger": Dass diese Entwicklung nicht nur eine Problemstellung, sondern auch eine Chance ist, haben wir im Caritasverband bereits erlebt. Den Menschen, die aus dem Nahen Osten und aus Afrika zu uns flohen, bieten wir nicht nur Beratung an. Einige von ihnen zählen heute zu unseren Auszubildenden und Mitarbeitern. Menschen, die Arbeit suchen und die Caritas, die dringend Pflegekräfte braucht - beide Probleme konnten wir zumindest in einigen Fällen mit einem Schlag lösen. Wir haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht.
Doch nicht erst durch die Flüchtlinge ist das Personal des Caritasverbandes Gießen "bunt" geworden. Schon seit vielen Jahren beschäftigen wir Menschen aus vielen verschiedenen Ländern in allen unseren Einrichtungen. 24,5 Prozent der Mitarbeitenden des Caritasverbandes Gießen sind nicht in Deutschland geboren.
Als Arbeitgeber erleben wir dabei die Probleme der Menschen mit, die in ihrer Heimat einen hohen akademischen Abschluss erworben haben. Diesen Abschluss in Deutschland anerkennen zu lassen ist für die, die nicht aus der EU kommen, oft enorm schwierig oder unmöglich. Auch hier beraten wir die Menschen. Hier bleibt für die Politik aber noch viel zu tun, um bessere Lösungen für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber zu finden.
"Bunter" werden nicht erst, sondern sind schon seit einigen Jahren unsere Kitas und Familienzentren. Die Kinder aus ganz unterschiedlichen Ländern haben die Arbeit verändert. lm Kita-Alltag spielen nicht mehr nur die christlichen Feste und Traditionen eine Rolle. Unsere Einrichtungen berücksichtigen auch die Feste und Bräuche anderer Religionen und lassen diese in die Arbeit mit den Kindern miteinfließen.
"Älter - bunter - weniger" - der Blick auf den gesellschaftlichen Wandel in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in Gießen macht uns keine Sorgen. Die Bevölkerung in der Stadt und dem Landkreis Gießen war schon in den vergangenen Jahrzehnten sehr gut sowohl auf ältere Menschen als auch auf das Thema Migration eingestellt. Letzteres hängt vor allem mit den vielen amerikanischen Soldaten und mit der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung zusammen. Beides hat schon seit der Nachkriegszeit das Klima in der Stadt mitgeprägt. Auf diese Erfahrungen können wir alle gemeinsam weiter aufbauen.
Wie der gesellschaftliche Wandel in Gießen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aussehen wird und wie wir uns darauf vorbereiten können, ist Thema dieser Tagung. Manche Entwicklungen lassen sich absehen und manche Aufgaben wie Altenhilfe, Schuldnerberatung oder U3-Betreuung werden uns auf jeden Fall längerfristig begleiten. Anderes wird allerdings auch immer unvorhersehbar bleiben. Der Leitspruch der Caritas "Not sehen und handeln" bedeutet eben auch, dass wir uns schnell auf jeweils neue Notsituationen einstellen, die nicht vorhersehbar und planbar sind. Ob zum Beispiel die Zahl der Flüchtlinge in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weltweit und hier bei uns zu- oder abnehmen wird, das ist kaum vorherzusehen, denn das entscheiden Politiker vieler Länder. Es ist unsere Aufgabe als Caritas, auf die Not, die wir sehen, dann zu reagieren, wenn sie da ist und die dann not-wendige Hilfe mit viel Engagement, Kreativität und Improvisation anzubieten.
ln diesem Sinne werden wir hier in Gießen, der Wetterau und dem Vogelsberg auch in Zukunft bleiben, was das Jubiläumsmotto verspricht: "Aktiv für das WIR".