Darmstadt. – Der Darmstädter Oberbürgermeister Peter Benz
bezeichnet sie als „unverzichtbare Lobby für die Menschen, die in soziale Not
geraten sind“. Der Darmstädter Caritasdirektor Dr. Werner Veith sieht in ihr
ein gelungenes Beispiel von „Hilfe zur Selbsthilfe“. Für die Menschen, die sie
tragen, ist sie weit mehr als Interessensvertretung von Beziehern von
Arbeitslosengeld und Sozialhilfe: Durch die Mitarbeit in der Darmstädter
Sozialhilfegruppe haben sie die Menschenwürde und das Selbstvertrauen wieder erlangt,
die ihnen im Kontakt mit Ämtern zuvor genommen worden waren. Die Darmstädter
Sozialhilfegruppe besteht, von allem Anfang an unterstützt vom Caritasverband
Darmstadt, seit 25 Jahren. Angesichts heraufziehender weiterer dramatischer
Verschlechterungen der sozialen Stellung armer Menschen durch die
Zusammenführung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II im
Zuge der Hartz IV-Gesetzgebung bekommt sie weiteren erheblichen
Bedeutungszuwachs.
Welche Auswirkungen
die Umsetzung der neuen Gesetze mit sich bringen, stellte auf einer
Pressekonferenz der 61 jährige Günter Seufert am eigenen Beispiel dar: Von Beruf
Feinstrumpfwerker, wurde er vor acht Jahren arbeitslos, als seine Firma die
Strumpfproduktion in die neuen Bundesländer verlegte. Für seinen Beruf gab es
in Darmstadt und der weiten Umgebung keinen Bedarf mehr. Entsprechend machte
ihm in all den Jahren das Arbeitsamt nur ein einziges Angebot als Modedesigner.
Die betroffene Firma winkte sofort ab, als sie seinen Beruf und sein Alter
erfuhr. Da er Hobbyschreiner ist, klapperte er sämtliche Schreinereinen in
Darmstadt und Umgebung ab. Insbesondere mit Hinweis auf sein Alter fand er
niemanden, der ihn anzustellen bereit war. Selbst als er sich kürzlich um eine
Stelle als Zeitungsausträger beworben hatte, wurde er abgewiesen: zu alt.
Günter Seufert bekommt derzeit 820 Euro an Arbeitslosengeld und Wohngeld. Es
reicht gerade so zum Leben und für die Miete, wenn nichts Außergewöhnliches
dazwischen kommt. Als er zum Beispiel kürzlich eine neue Brille brauchte, hat
er sie sich aus zwei gebrauchten Brillen zusammengebaut. Mit dem neuen Arbeitslosengeld
II werden seine Einkünfte um mehr als 110 Euro (13,5 Prozent) auf 709 Euro
sinken, Wohngeld schon mit dabei. „Ich werde dann jeweils in der zweiten
Monatshälfte nur noch von Wasser und Brot leben können“, sagt er.
Gruppentreffen
und offene Sprechstunde
Günter Seufert ist
einer der derzeit um die 10
Mitglieder
der Darmstädter Sozialhilfegruppe, die sich jeweils donnerstags von 16.00 bis
18.00 Uhr in der Caritas-Sozialstation und in Räumen der Gemeinde St. Elisabeth
trifft. Die Gruppe ist offen für alle, die sich insbesondere als Betroffene
über die Sozialgesetzgebung und ihre Auswirkungen fit machen wollen und die
bereit sind, ihr Wissen auch anderen Betroffenen zur Verfügung zu stellen.
Unterstützt wird die Sozialhilfegruppe dabei durch den Caritasverband
Darmstadt. Caritasdirektor Dr. Werner Veith verweist auf die Grundaufgabe der
Caritas, sich für Arme und Unterdrückte, für von Ausgrenzung bedrohte Menschen
in unserer Gesellschaft einzusetzen. Seit etwa 20 Jahren begleitet für den
Caritasverband der Diplom-Sozialarbeiter Johannes Hörner die Gruppe. Gudrun
Schneider, Leiterin der allgemeinen Lebensberatung der Caritas, sieht in der
Gruppe eine gelungene Verbindung zwischen der Selbsthilfe von Betroffenen, der
fachlichen Begleitung durch den Caritasverband und dem Miteinander mit der
gastgebenden Pfarrgemeinde St. Elisabeth, mit der viele weiterführende
Vernetzungen bestehen. Seit über 10 Jahren ist nach beharrlichen Kämpfen die
Sozialhilfegruppe Darmstadt mit Sitz und Stimme in der Sozialhilfekommission
vertreten, die den Darmstädter Magistrat berät. Und sie hat mit finanzieller
Unterstützung durch die Stadt Darmstadt einen Sozialhilfeführer herausgegeben,
der in leicht verständlicher Sprache die Betroffenen über ihre Rechte aufklärt.
Vor den Gruppentreffen halten Mitglieder der Sozialhilfegruppe jeweils donnerstags
von 14.00 bis 15.30 Uhr in der Sozialstation (Schloßgartenplatz 5) eine
Sprechstunde zur Beratung von Betroffenen ab.
Wieder
Mensch – und nicht ein Aktenzeichen
In der Mitgliedschaft
der Sozialhilfegruppe ist Fluktuation, es waren schon 15.
Den meisten ihrer Mitglieder gelingt esauf
Dauer, wieder einen regulären Arbeitsplatz zu bekommen, weil ihnen die
Mitarbeit in der Sozialhilfegruppe neues Selbstbewusstsein gegeben hat. Manche
gehen dann raus, andere, wie Karin Herkert (45), machen weiter. “Die
Gruppenarbeit hat mir in meiner schweren Zeit geholfen, und deshalb möchte ich
auch anderen Betroffenen in dieser Lage behilflich sein“, sagt sie. Die
alleinerziehende Mutter zweier Söhne, die in Dieburg wohnt, hatte einen
sicheren und gut bezahlten Arbeitsplatz als kaufmännische Angestellte in Weiterstadt
bei Darmstadt. Zum Ende des Erziehungsurlaubs hatte sie für ihre Söhne
Ganztags-Betreuungsplätze in einem Darmstädter Kindergarten gefunden. Ihr wurde
jedoch mitgeteilt, dass die Stadt Darmstadt nur Kinder aufnehmen dürfe, die
auch in Darmstadt wohnten. Nun wohnte sie aber in Dieburg – und dort gab es
weder einen Kinderhort noch einen Ganztagskindergarten. Dreimal hat sie im
persönlichen Gespräch mit dem damaligen Darmstädter Bürgermeister ihren Fall
erläutert, dreimal wurde ihr Fall auf einer Magistratssitzung besprochen und
dreimal wurde ihr Antrag abgelehnt. Weil sie nicht wusste, wie anders die
Kinder betreut werden könnten, hat sie ihre Arbeitsstelle aufgegeben und in
Armut von Sozialhilfe gelebt. „Wie oft musste ich meinen Kindern sagen: nein,
das können wir uns nicht leisten“, erinnert sie sich bitter. Mit den Nerven
völlig am Ende, konnte sie, von der Caritas in Dieburg vermittelt, eine
Mutter-Kind-Kur antreten. Dabei wurde sie auf die Sozialhilfegruppe aufmerksam,
die damals auch in Dieburg einen Ableger hatte. „Dort traf ich mit Gleichgesinnten
zusammen und erfuhr endlich auch von meinen Rechten als Sozialhilfeberechtigte“,
berichtet sie heute. „Ich beteiligte mich intensiv an den Gruppentreffen, da es
in dieser Zeit dort auch eine Kinderbetreuung gab. Hier war ich endlich wieder
ein Mensch unserer Gesellschaft und nicht nur ein Aktenzeichen.“ Über die
Sozialhilfegruppe hat sie gelernt, ihre eigenen Interessen und die Anderer bei
den Ämtern zu vertreten. Sechs Jahr lang hat sie zum Beispiel dafür gekämpft,
dass ihren Söhnen Fahrräder gewährt wurden, bis sie vor dem Hessischen
Verwaltungsgerichtshof in Kassel Recht bekam. Unterstützt wurde sie dabei von
Dr. Albrecht Brühl, Professor an der Fachhochschule Darmstadt, der auch immer
wieder die Sozialhilfegruppe Darmstadt berät. Ein andermal hat sie ein Jahr
lang – am Ende erfolgreich – für eine gebrauchte Waschmaschine gestritten.
Dabei war den Ämtern nicht zu vermitteln, was es für die Mutter zweier Söhne
bedeutet, ein Jahr lang ohne Waschmaschine zu sein. Trotz ihrer
Auseinandersetzungen mit den Behörden und ihres Engagements in der
Sozialhilfegruppe hat sie noch die Kraft gefunden, beim Abendgymnasium das
Fachabitur nachzuholen, was ihre Chancen auf einen neuen Job erhöhte. Den hat
sie vor zwei Jahren in einem Büro als Buchhalterin gefunden. Ihre beim Kampf
mit der Sozialbürokratie gemachten Erfahrungen gibt sie zum Beispiel in der
Sprechstunde der Sozialhilfegruppe an Andere weiter.
Steigende
Nachfrage
Die Nachfrage nach
Beratung in der Sprechstunde der Sozialhilfegruppe ist gerade in den letzten
drei Monaten stark gestiegen, beobachtet Johannes Hörner. Viele Menschen sind
derzeit verunsichert und Rat los, wie sie den 16seitigen Fragebogen zur
Auszahlung des künftigen Arbeitslosengeldes II ausfüllen müssen, von dem sogar
Caritasdirektor Dr. Werner Veith bekennt: „Ich hätte einige Probleme, das
auszufüllen. Eine Steuererklärung ist nichts dagegen.“
Verstoß
gegen die Menschenwürde
„Das
Bundessozialhilfegesetz wurde 1961 eingeführt mit dem Ziel, die Wechselfälle
des Lebens oder eines persönlichen Missgeschicks ausreichend zu sichern und
jedem Hilfesuchenden ein Leben in Würde zu ermöglichen“, warf Johannes Hörner
bei der Pressekonferenz einen Blick zurück. „Es scheint so, als werde dieses
Ziel nun aufgegeben,“ sagte er im Hinblick auf das, was Hartz IV jetzt
vorsieht. Personen, die es im Leben besonders schwer haben, zum Beispiel Kranke
und Behinderte, würden zusätzlich ausgegrenzt. Hörner zitierte den Frankfurter
Sozialethiker Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach, der dies für einen Verstoß gegen
die Menschenwürde hält. Hörner hofft, dass unsere Gesellschaft nochmals umdenkt
zu einer Gerechtigkeit nach den Kriterien des Sozialstaates, nach denen alle
Menschen bei der Verteilung der vorhanden Güter angemessen beteiligt werden –
eine schwache Hoffnung angesichts der Fakten, die Dr. Rainer Roth, Professor
für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Frankfurt, der Sozialhilfegruppe
Darmstadt zum Jubiläum in die Festbroschüre geschrieben hat: Mit Bezug auf Angaben
der Investmentbank Merrill Lynch besaßen danach Ende 2002 weniger als ein
Prozent der Bevölkerung in Deutschland zwei Drittel des Geldvermögens. Der Reichtum
der Millionäre nahm im Jahr 2003 um geschätzte 100 Milliarden zu. „Trotzdem
haben die Millionäre durchgesetzt, dass sie seit 1997 keine Vermögenssteuer
mehr zahlen müssen. Ein Prozent Vermögenssteuer nur für Millionäre würde über
20 Milliarden Euro in die Staatskassen bringen. Die Leute könnten das sogar bequem
aus dem Vermögenszuwachs bezahlen“, so Roth, der auch daran erinnert, dass der
Spitzensteuersatz der Einkommenssteuer von 48,5 auf 45 Prozent gesenkt wurde
und ab 2005 auf 42 Prozent weiter abgesenkt werden soll.
J. Otto Weber
Kontakt:
Sozialhilfegruppe
Darmstadt
Gruppentreffen:
(Kinderbetreuung vorhanden)
Donnerstag
16.00 – 18.00 Uhr
Sprechstunde:
Donnerstag
14.00 – 15.30 Uhr
Ort: jeweils in der Caritas-Sozialstation
Schloßgartenplatz 5 in Darmstadt
(bei St. Elisabeth)
Internet: www.darmstaedter-sozialhilfegruppe.de