Osthofen
/ Worms. – „Das mitmenschliche Klima in und im weiten Umfeld von Osthofen hat
sich in den letzten Jahren deutlich spürbar verbessert“, ist die Erfahrung zum
Beispiel von Eleonore Tirnitz-Parker. Als Leiterin der Seebachschule in
Osthofen vor den Toren von Worms steht sie an einer Stelle, an der sich sehr
sensibel die groben wie auch die feinen Gefühlsströme vieler Menschen bemerkbar
machen – der Schülerinnen und Schüler genau so, wie ihrer Eltern. An der
Grundschule mit über 350 Schülerinnen und Schülern herrscht starke Fluktuation,
gehört doch auch das Landesdurchgangswohnheim zu ihrem Einzugsgebiet. Dort
wohnen vorübergehend um die 360 Aussiedler und jüdische Immigranten aus Ländern
des ehemaligen Ostblocks für die Dauer von einem Tag bis zu einem Jahr; die
durchschnittliche Verweildauer beträgt ein Dreivierteljahr. Rund ein Drittel
der Bewohner des Landesdurchgangswohnheims sind Kinder und Jugendliche, von
denen viele die Seebachschule besuchen. Stärker und intensiver noch, als eh in
den Unterrichtsplänen von Rheinland-Pfalz vorgesehen, sieht sich die
Seebachschule der Aufgabe der Integration verpflichtet. Den neu angekommenen
Schülerinnen und Schülern will sie helfen, sich in der neuen Umgebung zurecht
zu finden und ihre Vergangenheit mit schmerzlichen Trennungen zu verarbeiten.
Bei den einheimischen Schülerinnen will sie Verständnis für die Neuen und ihre
Probleme wecken. Ziel ist dabei immer, die Migration als Chance und
Bereicherung für alle Beteiligten darzustellen und erlebbar zu machen. Dabei
greift sie immer wieder gerne auf die Migrationskiste oder Teile daraus zurück,
die beim Caritasverband Worms aus einem im Frühjahr 2000 ausgeschriebenen
Kunstwettbewerb entstanden ist. Diese wurde jetzt erneut der Öffentlichkeit
vorgestellt wie erstmals ein vom Caritasverband Worms herausgegebenes Heft, in
dem Schulleiterin Eleonore Tirmitz-Parker einige an der Seebachschule in
Osthofen erarbeitete und erprobte Unterrichtsmodelle für verschiedene Grundschulklassen
darstellt.
Katholischer Lagerdienst seit Kriegsende
Seit
seiner Entstehung nach dem zweiten Weltkrieg war die Caritas durch den Katholischen
Lagerdienst im Landesdurchgangswohnheim Osthofen vertreten, ließ Eva Bertz vom
Migrationsdienst des Caritasverbandes Worms Geschichte Revue passieren. Viele
Jahre lang lag der Schwerpunkt der Hilfe in der individuellen Beratung und
Begleitung der Neuankömmlinge. In den neunziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts reifte die Erkenntnis, dass die Einzelberatung durch Gemeinwesen-
und Netzwerkarbeit ergänzt werden muss, wenn eine auf gegenseitiges Verständnis
ausgerichtete Integration erreicht werden soll. Mit der Caritas quasi als
Katalysator entstand ein Integrationskreis, in dem unterschiedlichste Gruppen
vertreten sind, die alle einen Beitrag zu gegenseitigem Verständnis leisten
wollen. Und ganz gezielt arbeitet das caritaseigene Projekt „Kit“
(„Kommunikations- und Informationstreffpunkte für Einheimische und Spätaussedler
schaffen“) an der Begegnung zwischen Migranten und Altbürgern, wie Andrea
Dürrschmidt schildert. Über Bildungsveranstaltungen, kulturelle
Begegnungstreffen und gesellige Veranstaltungen versucht man vielfältig mit
Erfolg, die Neuzugewanderten und Einheimischen miteinander in Begegnung zu bringen.
Kunstpreis Migration 2000
Einen
völlig neuen Weg hat daneben der Caritasverband Worms im Frühjahr 2000 eingeschlagen:
Er schrieb in ganz Rheinhessen unter dem Thema „Mittendrin, statt nur
daneben?!“ einen „Kunstpreis Migration 2000“ aus. Einheimische wie Fremde aller
Altersstufen wurden damit eingeladen, ihre Sichtweise von Fremdheit und Heimat
künstlerisch auszudrücken. Damit sollte in unserer oft verkopften Gesellschaft
auch ins Bewusstsein gehoben werden, dass es über die Sprache hinaus viele
weitere Möglichkeiten gibt, Befindlichkeiten zum Ausdruck zu bringen. Und es
sollte dem Rechnung getragen werden, dass sich gerade die Zugewanderten schwer
tun, sich in der deutschen Sprache auszudrücken. Ziel des Wettbewerbs war es,
das gegenseitige Verständnis „Einheimischer“ und „Fremder“ zu erhöhen und den
vorhandenen Fähigkeiten der Teilnehmer ein Forum zur Darstellung ihres Lebens-
und Kulturraumes zu bieten. Die Resonanz war überwältigend. Viele Menschen,
auch viele Kinder und Jugendliche, beteiligten sich mit beachtlichen Arbeiten,
die unter anderem in der Osthofener Filiale der Sparkasse Worms ausgestellt
wurden.
Kunstwettbeweb – keine Eintagsfliege
Der
Kunstwettbewerb sollte aber keine „Eintagsfliege“ bleiben. Der Osthofener
Künstler Horst Rettiig nahm sich der vielen Kunstwerke an, fotografierte einige
der größeren, gab ihnen Rahmen, kombinierte sie mit Texten, gruppierte kleinere
Originalkunstwerke neu, kombinierte weitere Gegenstände wie Waschschüsseln,
Arbeitsjacken aus Filz und Wolldecken dazu, die in Verbindung mit Vertreibung
und Migration stehen, – und schuf mit einer neuen Ausstellung zunächst ein
neues Kunstwerk. Zugleich schuf er einen riesigen Koffer, die Migrationskiste,
in die alle Exponate dieser Ausstellung gepackt werden können. Diese
Migrationskiste gleicht einer Reisetruhe.
Sie steht auf zwei starken Stangen und kann so von vier Menschen getragen werden.
Assoziationen zur Bundeslade, dem Allerheiligsten des biblischen Volkes Israel
auf seiner Wanderung durch die Wüste nach dem Auszug aus Ägypten, sind vom
Künstler beabsichtigt und gewollt. Der Caritasverband Worms hält diese
Mitgrationskiste seitdem zum Ausleihen bereit. Schon öfters haben Pfarreien
oder auch Vereine von diesem Angebot Gebrauch gemacht und aus den Exponaten und
Gegenständen jeweils unterschiedliche Ausstellungen gestaltet, die immer
Menschen miteinander ins Gespräch brachten, Vergangenheit aufbrechen ließen und
so Brücken über die Gegenwart in die Zukunft bauten. Unvergesslich für die, die
dabei waren, ist noch immer die Reaktion des Wormser SPD-Abgeordneten Klaus Hagemann,
als er bei der ersten Präsentation der Ausstellung auch mit den Waschschüsseln
und den daneben liegenden Seifestücken konfrontiert wurde. In bewegten Worten
schilderte er damals, was es für ihn als Kind auf der Flucht bedeutete, nach
langen Entbehrungen erstmals wieder über eine eigene Waschschüssel und ein
Stück Kernseife verfügen zu können. Es habe ihm ein Stück Menschenwürde zurück
gegeben. Ähnlich die Erfahrungen von Schulleiterin Timitz-Parker und ihrer
Kolleginnen in der Schule, die immer wieder mit Gegenständen aus der Migrationskiste
in der Schule arbeiten. Gerade die ruhigsten und nachdenklichsten Schülerinnen
und Schüler würden dadurch angeregt, von ihren Erfahrungen zu erzählen. Ein
Taschentuch, das zur Ausstellung gehört, habe aus einer Schülerin die
Schilderung ihrer Erlebnisse um Abschied aus der alten Heimat und Ängste vor
dem Neuen hervorbrechen lassen. Aussiedlung, Umsiedlung – das hat mit Schmerzen
zu tun, mit Weinen, mit dem Taschentuch.
„Integration
will nicht gleichmachen“, so Fachbereichsleiter Georg Bruckmeir für die Caritas.
„Sie will die Stärken von Einheimischen, Zugereisten und Neuankömmlingen gegenseitig
nutzbar machen. Auch die Migranten müssen sich klar machen, dass sie etwas
mitgebracht haben. Integration ist ein Geben und Nehmen von allen Seiten.“
Dem
will die Migrationskiste, die weiterhin kostenlos beim Caritasverband Worms ausgeliehen
und auf Wunsch auch von einer Fachkraft begleitet werden kann, ebenso dienen
wie die neue Arbeitshilfe von Eleonore Tirnitz-Parker mit unterrichtlichen Umsetzungsmöglichkeiten
für Grundschüler zum Thema Migration.
J. Otto Weber
Kontakt:
Caritasverband
Worms e. V., Migrationsdienst, Rheinstraße 45, 67574 Osthofen, Fon: 06242/2460,
Fax: 06242/990964, E-Mail:
migration@caritas-worms.de
Dort ist auch die vom Caritasverband Worms herausgegeben
Arbeitshilfe „Mittendrin, statt nur daneben?!“ für 3.50 Euro zu beziehen.
Kontakt zur Autorin Eleonore Tirnitz-Parker: Seebachschule, Memelstraße 2, 67574
Osthofen, Fon 06242/3679.