26
Juni 2012
„Dublin II-Verordnung: Trauriges Zeugnis dafür, dass
Menschenrechte in Europa mit Füßen getreten werden“
Diakonisches Werk in Hessen
und Nassau und Caritasverband für die Diözese Mainz ziehen bedrückende Bilanz
zum Rechtshilfefonds in der Abschiebungshaft in Ingelheim – Neukonzipierung der
Haft durch Landesregierung wird begrüßt
Frankfurt am Main/Mainz/Ingelheim.
Auch für das zurückliegende
Jahr fällt die Bilanz der beiden Verbände zum gemeinsamen Rechtshilfefonds in
der Abschiebungshaft in Ingelheim bedrückend aus: Denn nach wie vor werden zu
viele Menschen zu Unrecht inhaftiert.
Zugleich
begrüßen Diakonisches Werk in Hessen und Nassau (DWHN) und Caritasverband für
die Diözese Mainz (DiCV) die Bemühungen der Landesregierung, die
Haftbedingungen grundsätzlich
zu ändern. Die breite Beteiligung auch von
Nichtregierungsorganisationen an der Neukonzipierung der Abschiebungshaft in
Rheinland-Pfalz sei beispielhaft, so Domkapitular Hans Jürgen Eberhardt,
DiCV-Vorstand, und Dr. Wolfgang Gern, DWHN-Vorstandsvorsitzender. Beide
ergänzen: „Wir hoffen, dass die auf diesem Wege erarbeiteten
Änderungsvorschläge auch tatsächlich umgesetzt werden.“
Viele Betroffene zu Unrecht inhaftiert
„Im Jahr 2011
wurden insgesamt 64 Personen durch unseren Rechtshilfefonds finanziell unterstützt.
Aufgrund der rechtlichen Interventionen wurden 22 Personen, das sind immerhin
knapp 36 Prozent, wieder aus der Haft entlassen“, so Eberhardt. Diese Zahl ist
seit vielen Jahren gleichbleibend hoch und belegt, dass viele Betroffene zu Unrecht
inhaftiert werden. Weiterhin wurden von den bezuschussten Fällen 16 Personen,
das sind 25 Prozent, in ihr Herkunftsland abgeschoben und 23 Personen, also 36
Prozent, im Rahmen des sogenannten Dublin II-Verfahrens in ein anderes
europäisches Land zurückgeschoben. Nach der auch von DWHN und DiCV immer wieder
kritisierten Dublin II-Verordnung ist der Staat in Europa für das Asylverfahren
zuständig, den ein Flüchtling zuerst betreten hat.
„Was wir in der
Abschiebungshaft tagtäglich erleben müssen, ist bedrückend“, stellt Gern fest.
Immer mehr so genannte Dublin II-Fälle werden flächendeckend in
Abschiebungshaft gebracht, so Gern weiter. „Junge Menschen aus Afghanistan, dem
Irak oder aus dem Iran fliehen vor politischer Verfolgung oder den Kriegswirren
in ihren Ländern nach Europa und werden hier bei uns ins Gefängnis gesteckt.“
„Die
Erlebnisse, die diesen Menschen während ihrer Flucht innerhalb von Europa
widerfahren, sind ein trauriges Zeugnis dafür, dass auch in der Europäischen
Union Menschenrechte mit Füßen getreten werden“, so Eberhardt und Gern. So
leben Flüchtlinge in Italien beispielsweise häufig auf der Straße, weil es zu
wenige Aufnahmeplätze gibt. Hier sind sie vielfach gewalttätigen und auch
sexuellen Übergriffen ausgesetzt. In Malta werden grundsätzlich alle neu
ankommenden Flüchtlinge nach ihrer gefährlichen Reise in kleinen Booten über
das Mittelmeer inhaftiert.
„Abschiebungen
nach Griechenland sind seit gut eineinhalb Jahren ausgesetzt“, stellt Eberhardt
fest. „Die Situation war für Flüchtlinge so unerträglich, dass es nicht mehr zu
verantworten war, sie dorthin zurückzuschicken. „Flüchtlinge laufen aber auch
beispielsweise in Italien Gefahr, obdachlos zu werden, oder in Ungarn gar ins
Gefängnis gesteckt zu werden“, sagte Eberhardt.
„Müssen der Verantwortung gegenüber hilfesuchenden
Menschen gerecht werden, statt sie abzuschieben“
Europa und
insbesondere Deutschland müssen endlich ihrer Verantwortung gegenüber den hilfesuchenden
Menschen gerecht werden und nicht nur danach schauen, wo man sie als nächstes
hinschieben kann, so die beiden Verbandsvertreter.
„Solange es in
Europa keine einheitlichen und vor allen Dingen verbindlichen Standards für die
Aufnahme von Flüchtlingen und die Durchführung von Asylverfahren gibt, darf
dieser Verschiebebahnhof nicht weitergehen“, fordert Gern. Die europäische
Dublin II-Verordnung müsse ausgesetzt und Alternativen müssten entwickelt
werden, die menschenrechtlichen Standards genügen.
Ein junger Mann erzählt von der Flucht – „Der Mensch,
der ich einmal war, ist nicht mehr“
Exemplarisch
für das Schicksal vieler Flüchtlinge steht die Aussage eines jungen Mannes aus
Afghanistan, der während seiner Flucht, bei der er innerhalb von drei Jahren
durch acht europäische Länder geirrt ist, Gewalt, Gefängnis, Obdachlosigkeit
und Willkür erlebt hat. Er resümiert heute: „Ich bin jetzt 23 Jahre alt und
habe Dinge erleben müssen, die mich nachts nicht mehr schlafen lassen. Die
Bilder kommen immer wieder hoch, die Angst und die Ohnmacht. Was bin ich? Ein
Mensch oder ein Tier? Aber auch Tiere würde man nicht so behandeln, wie ich
behandelt worden bin. Ich bin nichts, ich bin Dreck und wurde wie Dreck
behandelt. Ich fühle mich nicht mehr als Mensch. Der Mensch, der ich einmal
war, der ist nicht mehr. Er ist hier kaputtgemacht worden. Ich bin 23 Jahre alt
und habe einen grauen Bart!“
Auf die Dublin
II-Problematik weist auch die Broschüre hin, die die Diakonie gerade zusammen
mit Pro Asyl unter dem Titel „Flüchtlinge im Labyrinth – die vergebliche Suche
nach Schutz im europäischen Dublin-System“ veröffentlicht hat. Sie kann über
die Diakonie bezogen werden unter 069 7947275, ruth.asiedu@dwhn.de.
Stichwort: Abschiebungshaft in Ingelheim
Die
Abschiebungshaft in Ingelheim existiert seit Mai 2001. Sie hat 152 Haftplätze,
zurzeit sind dort etwa 20 Männer und Frauen inhaftiert. Eine fünf Meter hohe
Betonmauer trennt die Insassen von der Außenwelt. Durch die vergitterten
Fenster in den Innengebäuden fällt der Blick auf dreifachen Stacheldraht.
Stichwort: Rechtshilfefonds
Mit dem
Rechtshilfefonds werden Verfahren teilfinanziert, um die Verhängung von
Abschiebungshaft zu überprüfen oder andere asyl- und ausländerrechtliche
Schritte einzuleiten. Der Rechtshilfefonds wird von den Caritasverbänden für
die Diözesen Mainz, Limburg, Speyer und Trier und den Diakonischen
Werken
in Hessen und Nassau und der Pfalz sowie aus Eigenmitteln
und Spenden finanziert.
Hinweis für Redaktionen
Gerne
vermitteln wir Ihnen Interviews und Gespräche auch über Dublin II-Fälle mit
unserem Mitarbeiter in der Abschiebungshaft in Ingelheim.
Die
Pressemitteilung wird zeitgleich vom Diakonischen Werk in Hessen und Nassau und
vom Caritasverband für die Diözese Mainz verschickt.