04. November 2010
Das Gegenteil von Armut ist Freiheit
Beim Forum Sozialpastoral begegnen sich kirchliche
Mitarbeiter und von Ausgrenzung betroffene Menschen auf Augenhöhe / Vortrag von
Mario Junglas
Heppenheim.
Mario Junglas, Direktor des Berliner Büros des Deutschen Caritasverbands hat
sich beim achten „Forum Sozialpastoral“ für eine radikale Wertschätzung der von
Armut betroffenen Menschen ausgesprochen. Tendenzen, diese Menschen als die ‚Entbehrlichen’
zu bezeichnen, weil sie als Konsumenten oder Leistungsträger uninteressant
seien, erteilte Junglas eine klare Absage. „Solche erschreckenden Aussagen
erschüttern unser Selbstverständnis in unser Gemeinwesen in unseren
Grundfesten“, sagte der Jurist und Theologe vor rund 60 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern aus kirchlicher Pastoral und Caritasarbeit. Zu der Veranstaltung,
die am 03. November im Haus am Maiberg stattfand, hatte die Initiative Sozialpastoral
im Bistum Mainz eingeladen.
Vor dem Hintergrund solcher
ausgrenzenden politischen Tendenzen sei es wichtig, dass sich Kirche und
Caritas immer wieder als solidarischer Partner für von Armut betroffenen Menschen
anböten. Junglas wies darauf hin, dass die Betroffenen selbst am besten wissen,
was sie brauchen. „Sie sind die Experten für ihre eigene Situation“. Deutlich
werde das beispielsweise an dem Projekt HOT (Haushaltsorganisationstraining)
des Deutschen Caritasverbands, das die Alltagskompetenz von Menschen stärken
soll, etwa weil sie durch Langzeitarbeitslosigkeit ihre Alltagsstruktur
verloren haben. Dabei unterstützen Sozialarbeiter die Familien, ihre
selbstgesteckten Ziele im Haushalt, zu erreichen. Für Junglas sind solche Projekte
aufsuchender Sozialarbeit ein Weg in die richtige Richtung: „Wir brauchen heute
soziale Lernformen, die auf die Lebenswelt der Menschen zugeschnitten sind.“
Armut bedeutet Unfreiheit
Junglas
wies in seinem Vortrag
„Es fehlt mehr
als Geld! Exklusion und andere Folgen der Armut“ auf die gravierenden
nicht-materiellen Folgen von Armut hin. „Armut bedeutet Abhängigkeit von
Transfers und Unterstützung, Einschränkungen in der Gesundheit, der Bildung und
den sozialen Beteiligungsmöglichkeiten, kurzum: Unfreiheit in der Gestaltung
des eigenen Lebens.“ Armutsbekämpfung, so Junglas, gelinge dann am besten, wenn
sich einerseits die inneren Kräfte der Betroffenen mobilisieren lassen,
andererseits aber auch äußere Kräfte einbezogen seien, die sich für eine
bessere soziale und kulturelle Teilhabe der Betroffenen einsetzen. In Anlehnung
an das biblische Gleichnis der Speisung der 5000 rief der Theologe die
Mitarbeiter in Kirche und Caritas dazu auf, aus der Fülle des Lebens heraus zu
handeln. „Mit kleinen Anfängen loszulegen, das ist unser Auftrag des Herrn.“
Ausgrenzung am eigenen Leib erlebt
Doch nicht nur durch Armut
sind Menschen von gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen. Auch prekäre Arbeitsverhältnisse,
mangelnde Bildung oder eine andere Hautfarbe können dazu führen, dass Menschen
um ihre Teilhabe gebracht werden. Davon berichteten am Nachmittag im Haus am
Maiberg mehrere Menschen, die diese Ausgrenzungs-Erfahrungen am eigenen Leib
erlebt haben: etwa Mireille Bella-Atah. Die Kamerunerin kam 1998 zum Studium
nach Mainz. Nicht nur sprachliche und bürokratische Hürden rückten bei ihr nach
ihrer Ankunft das Bild von ihrem Traumland zurecht. Hürden gab es auch bei der
Wohnungssuche: Denn ihr afrikanisches Aussehen war vielen Wohnungseigentümern
Grund genug, ihr nach einem persönlichen Vorstellungstermin, noch eine Absage zu
erteilen. „Manchmal habe ich mich wie ein Mensch zweiter Klasse gefühlt. Aber
ich bin eine Kämpferin.“
Mirelle Bella-Atah hat sich
durchgebissen, ihren Abschluss gemacht und in ihrer neuen Heimat Deutschland Wurzeln
geschlagen. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Mann und zwei Kindern in Worms. Um
ausländischen Studierenden die Integration in Deutschland zu erleichtern,
müsste es mehr Hilfen direkt nach der Ankunft geben. Jedem Neuankömmling könnte
ein Tutor zur Seite gestellt werden. „Mir haben ein Sprachtandem und die
Hochschulseelsorge in Germersheim sehr geholfen“, sagt Bella-Atah.
Mit den Betroffenen ins Gespräch kommen
Bei der Organisation von
konkreten Hilfen sieht Stephan Volk, Dekanatsreferent im Dekanat Bergstraße
Mitte, außer den Betroffenen auch Kirche und Caritas am Zug. „Selbsthilfe und
Fremdhilfe müssen für mich in einem ausgewogenen Verhältnis stehen“, sagt er in
der abschließenden Talkrunde. Deshalb sei es wichtig, mit den Betroffenen ins
Gespräch zu kommen, um die entsprechenden Bedarfe zu erfahren.
Dass sich Kirche vor dem
Hintergrund zunehmender prekärer Beschäftigungsverhältnisse für
Arbeitnehmer-Rechte engagieren müsse, betont
Hans-Georg Orthlauf-Blooß, Betriebsseelsorger für die Region Mainz. „Wir
müssen als kirchliche Mitarbeiter noch sensibler werden für die existentiellen
Ängste von Menschen, die jeden Tag ihren Arbeitsplatz verlieren können. Wenn es
um die Würde der Arbeitnehmer plädiert Orthlauf-Blooß für eine engere Kooperation
mit den Gewerkschaften. „Da haben wir ein gemeinsames Anliegen.“
Für Annemarie Melcher, Leiterin der Telefonseelsorge Darmstadt, liegt das
Kapital von Kirche und Caritas in einer „wertschätzenden Kommunikation“ mit den
Hilfesuchenden. Entscheidend sei mit den Betroffenen, „auf Augenhöhe in Kontakt
zu kommen“.
Diese Wertschätzung für den Nächsten müsse man auch gegenüber Dritten
immer wieder einfordern, betont Sonja Knapp, Leiterin des Gemeindezentrums St.
Elisabeth in Mainz-Kastel/Kostheim. Denn immer wieder passiere es, dass
Bedürftige von manchen Mitarbeitern in den Jobcentern regelrecht „abgebügelt“
werden. Wenn dann ein Caritas-Mitarbeiter das gleiche Anliegen noch einmal
vorbringe, bekomme man plötzlich Gehör geschenkt. Für Sonja Knapp ist klar: „Da
wird Menschenwürde mit Füßen getreten.“ (ond)
Hinweis:
Die
Initiative Sozialpastoral ist ein Projekt von hauptamtlichen pastoralen
Mitarbeitern aus dem Bistum Mainz, die im Jahr 2002 gegründet wurde. Die
Initiative will die Option für die Armen zur Geltung bringen und Mitarbeiter
aus Seelsorge und Caritas, die sich im Bereich der Sozialpastoral engagieren,
miteinander vernetzen und unterstützen. Seit dem Jahr 2003 veranstaltet die
Initiative einmal jährlich ein Forum Sozialpastoral im Bistum Mainz. In diesem
Jahr lautete das Thema „Ausgeschlossen! Wo Menschen um ihre Teilhabe gebracht
werden“
(ond)